fliegen

Objekt gefertigt 2015

Zitat aus „Alle Toten fliegen hoch: Amerika“ von Joachim Meyerhoff | Kiepenheuer & Witsch | 2011 | Seite 272-273


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Turm_02


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„Lieber Randy,

heute will ich versuchen, dir über ein eigenartiges Gefühl zu berichten. Ich hab nicht viel Zeit, weil mich Brian gleich mit seiner Freundin zum Blueberrycake-Backen abholt. Diese Freundin ist echt seltsam. Du weißt schon, die Chirurgin mit den winzigen Händen. Immer wenn ich sie essen sehe, muss ich daran denken, dass sie mit ihren geschickten Fingerchen vielleicht am selben Tag jemandem den Blinddarm rausoperiert hat. Ich will ja vielleicht auch Arzt werden. Mein Vater würde das sehr freuen. Na, ich hab ja noch ein bisschen Zeit zum Überlegen. Also, es geht um Folgendes: Ich schäme mich oft, weil ich denke, dass ich nicht traurig genug bin. Mein Bruder lebt nicht mehr und ich lasse es mir hier in Amerika gut gehen. Am liebsten würde ich nie wieder zurück. Ich habe ein wenig Angst vor meinen traurigen Eltern. Also nicht vor meinen Eltern, aber eben vor ihrer Trauer. Ich denke dann immer, wenn ich wieder in Deutschland bin, muss ich ununterbrochen für sie da sein. Dazu habe ich gar keine Lust. Wenn ich so etwas denke, fühle ich mich schlecht. Ich freue mich ja auch auf sie und auf den Hund und auf zu Hause und auf meine Freundin. Ich bin echt gespannt, ob das wieder gut wird, denn ich habe mich  ja gar nicht mehr um sie gekümmert, und von Maureen weiß sie ja nichts. Hab ich dir ja eh geschrieben. Ich denke jetzt auch lauter Sachen über meine Familie, die ich noch nie gedacht habe. Erst seit ich weg bin, denk ich so was. Mir kommt das so vor wie bei einer Schneeballschlacht. Die beste Strategie, um nicht getroffen zu werden, ist doch den, der den Schneeball hat, zu umarmen. Sodass er nicht werfen kann. Je näher man dran ist, desto besser. So geht mir das mit meiner Familie, mit allen zu Hause. Die lassen mich nicht werfen! Die lieben und umarmen mich die ganze Zeit. Und jetzt hier in Amerika bin ich so weit weg, dass ihre Arme nicht herreichen, und endlich sehe ich sie mal aus der Weite und nicht immer von so nah. Sehe, was das überhaupt für Menschen sind. Jeder Einzelne. Nicht diesen Familienklumpen, sondern jeder steht von Weitem gesehen ganz für sich. Jetzt kann ich endlich werfen, kann sie sehen, zielen und sie treffen. Und davor habe ich Angst, dass mich, wenn ich wieder in Deutschland bin, alle wieder in den Arm nehmen und ich sie nicht mehr angreifen kann, weil ich die Hand mit meinem Schneeball vor lauter Liebe und Zärtlichkeit und Traurigkeit nicht hochbekomme. Und dass mein mittlerer Bruder gerade jetzt, wo ich anfange, ihn zu sehen, zu erkennen, nicht mehr da sein soll, ist ganz schrecklich für mich. Ich kann gar nicht glauben, dass ich ihn nie mehr wiedersehen werde. Denn er ist ja für mich nicht mehr weg als der Rest der Familie. Oft vergesse ich, dass er tot ist, und freu mich auf ihn. Oh, Brian fährt gerade mit seinem Jeep auf die Einfahrt. Bis bald, The German!“